Oper – echt jetzt?!?

Oper – echt jetzt?!?


„Die Oper ist der einzige Ort auf der Welt, an dem der Held, nachdem er in den Rücken gestochen wurde, zu singen beginnt.“

Boris Vian

Liebe Opernfreundinnen und Opernfreunde,

Nachdem mir ein junger Mann mal freundlich erklärt hat, dass „Bach und Beethoven Typen sind, die Musik für Handys schreiben“, stellt sich immer wieder die Frage, ob Oper – oder die sogenannte E-Musik (ernsthafte Musik) – noch zeitgemäß ist. Wir, die wir die Oper lieben und regelmäßig besuchen, bejahen diese Frage natürlich vehement, vor allem, wenn man sich die derzeitige Immlinger Inszenierung der Dreigroschenoper angesehen hat.

Genauso könnte man fragen, ob die Liebe noch zeitgemäß sei. Diese Frage wird am 13. Juli mit der Premiere von „Roméo et Juliette“ wohl auch hinreichend geklärt …

Aber mal im Ernst – kennen junge Leute das „O Fortuna“ aus der Carmina Burana nur noch aus der Nestlé Werbung? Seit Beginn der 90er Jahre wird Werbung immer ungenierter mit Klassik-Schnipseln versetzt, und seitdem werden immer mehr sinfonische Stücke und konzertante Werke zu Mini-Stücken verstümmelt und aus jedem Zusammenhang gerissen dargeboten.

Wie aber können wir unser Erleben durch Musik auch der jungen Generation vermitteln? Vermutlich nur durch wiederholtes und frühes Auseinandersetzen mit klassischer Musik. Deshalb sind Kinderchor und Jugendakademie in Immling so wichtig. Man weiß inzwischen, dass ähnlich wie die Identitätskonstruktion auch die Geschmackspräferenzen früh geprägt sind – wenn sie einmal ausgebildet sind, dann bleiben sie auch relativ stabil. Wer also früh an klassische Musik herangeführt wurde, wird sein Leben lang klassische Musik als Teil seiner Identität begreifen.

Laut einer Studie der Universität Frankfurt interessieren sich für die klassische Musik hauptsächlich Personen, die in ihrer Jugend mit klassischer Musik in Berührung gekommen sind: “Nahezu alle Befragten (94 Prozent) hatten vor dem zwanzigsten Lebensjahr ihr erstes Konzerterlebnis. (…) Ein imponierender Anteil von etwa 75 Prozent aller Befragten gab an, ein Musikinstrument erlernt zu haben und 35 Prozent spielen immer noch aktiv”

Foto – Leonardo Sanchez (Romeo) & Diana Alexe (Juliette) © Verena von Kerssenbrock



Können Sie sich noch an Ihr „erstes Mal“ erinnern? Ich war sieben Jahre alt, als mein Vater mich am Sonntagnachmittag auf das Sofa setzte, mir das Libretto von „Hänsel und Gretel“ in die Hand drücke, die Nadel auf der Schallplatte aufsetzte und den Raum verließ. Da saß ich, allein mit Textheft und Musik und wurde schnell hineingezogen in diese neue Märchenwelt. Jeden Sonntag wurde klassische Musik zum Frühstück gespielt, meist ein Konzert oder eine Sinfonie von Mozart, und mit acht Jahren durfte ich im Münchner Nationaltheater meine erste „Carmen“ erleben.

Habe ich bei einem Joan Baez Konzert begeistert mein Feuerzeug geschwenkt (und mir die Finger verbrannt)? Mit Enthusiasmus! Ob Gipsy Kings, Queen oder die Beatles, ob Alexandra, Katja Ebstein oder französische Chansons von Edith Piaf – alles hat mich begeistert, interessiert und ich höre es bis heute gern.

Musik gilt als der Schlüssel zur Identität. Identität entsteht aus gemachten Erfahrungen, und da Musik bis zur Erfindung des Tonträgers nur im Kollektiv erfahren werden konnte, entstand durch das gemeinsame Musizieren oder anderen dabei zuzuhören, eine kollektive Identität. Und diese Identitätsstiftung durch das gemeinsame Erleben von Musik gilt bis heute.

Jede und jeder, der im letzten Jahr die unvergleichliche 2. Sinfonie von Gustav Mahler in Immling erleben durfte, wird dies bestätigen! Ich durfte es miterleben und muss gestehen, dass ich streckenweise das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, so überwältigt war ich von den Emotionen, die da ungefiltert über mich hereinbrachen. Maestra von Kerssenbrock hatte quasi mit Heben des Taktstockes ihr Herz neben sich auf die Bühne gelegt. Orchester und Chor folgten diesem emotionalen Vertrauen in einer Eintracht und einer Gefühlswelle, wie sie selten zu erleben sind. Als der Taktstock mit dem Verklingen des Schlussakkords sank, die Dirigentin erschöpft den Kopf gesenkt hielt, hätte man im Saal eine Münze fallen hören können, so atemlos still war es – für gut eine halbe Minute!! Ich glaube, wie mir erging es den meisten – ich musste mich erst einmal zurückbeamen aus dieser Emotionsflut, aus diesem unglaublichen Erleben von Musik als reinem Gefühl, und stimmte zögerlich in den Applaus mit ein. Aber dann brach sich die Emotion beim Publikum Bahn und es wurde stehend für Minuten applaudiert! Im Chor wischten sich einige die Tränen aus den Augen, und beim Verlassen des Saals wurde auch mal die treue Dame vom Einlass umarmt, denn irgendwie musste man all das zum Ausdruck bringen, was uns da geschenkt worden war. Wir waren durch dieses Erlebnis zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geworden, wir wussten alle, dass wir etwas Unvergleichliches miteinander teilen durften. Kollektive Identität in Reinkultur.

Foto – Cornelia von Kerssenbrock & Orchester © Mariella Weiss



Also: ran an die Kinder und Jugendlichen, Oper, Konzert und alles, was mit Klassischer Musik zusammenhängt, schmackhaft machen! Streaming-Dienste haben zunehmend auch Klassik im Programm, und da darf man ruhig mal auf die „Gassenhauer“ hinweisen, um einen Zugang zu erschließen. Ganz besonders gut geeignet ist natürlich auch das Geschenk einer Eintrittskarte für die Kinderoper in Immling für Kinder oder Enkel – live macht das Ganze noch einmal so viel Spaß!

In diesem Sinne lassen Sie uns gemeinsam das Festivalpublikum der Zukunft auf großartige Vorstellungen vorbereiten

Herzlichst Ihre Christiane Berker

Foto – Zauberflöte 2022 © Nicole Richter