Rückblick auf das Jahr 2004

Wir begeben uns ein weiteres Mal auf Zeitreise und schauen zurück auf das Jahr 2004, in dem Verena von Kerssenbrock Mozarts „Entführung aus dem Serail“ inszenierte. Die musikalische Leitung übernahm Cornelia von Kerssenbrock. Wir sehen uns die Handlung etwas genauer an und stellen uns die Frage, wie gehen wir mit dem Fremden um?

“Entführung aus dem Serail” von Wolfgang Amadeus Mozart

Regie und Ausstattung: Verena von Kerssenbrock
Musikalische Leitung: Cornelia von Kerssenbrock
Die Handlung

Mozarts Werk handelt von Konstanze, eine junge Spanierin, ihrer Zofe Blondchen und deren Freund, dem Diener Pedrillo, die nach einem Seeräuberüberfall von Konstanzes Verlobtem, dem spanischen Edelmann Belmonte, getrennt und auf einen Sklavenmarkt verschleppt worden sind. Glücklicherweise kauft sie Bassa Selim, ein gebürtiger Spanier, einst Christ und jetzt Muslim, der ihnen in seinem am Meer gelegenen Palast halbwegs erträgliche Lebensbedingungen bietet.  Belmonte hat nach Monaten einen Brief seines Dieners Pedrillo erhalten und kennt nun den Aufenthaltsort der Vermissten. Er segelt zu der von Pedrillo bezeichneten Küste, entschlossen, die Entführten zu retten. Mithilfe seines Dieners gelingt es Belmonte nach einiger List zunächst mit Konstanze zu fliehen, doch die nachkommenden Pedrillo und Blonde gefasst. Konstanze und Belmonte werden darauf hin ebenfalls gefangen und zusammen mit den anderen in dem Bassa Selim vorgeführt.

Zunächst will Selim die rebellischen Paare hinrichten lassen. Doch, nachdem sich Belmonte und Konstanze schon voneinander und ihrem Leben verabschiedet hatten, lässt Selim noch einmal Gnade walten und zeigt sich großmütig: Selim erkennt die Ungerechtigkeit gegenüber den Paaren und möchte sie mit der Wohltat ihrer Befreiung wieder gut machen. Osmin ist bestürzt, so sehr hatte er sich auf die bevorstehende Hinrichtung gefreut. Die Oper schließt mit einem Jubelchor auf die Güte und Milde des Bassa Selim.

Interkulturelle Begegnung

Schon das originale Werk legt das Thema interkulturelle Begegnung und der Umgang des Westens mit dem Islam nahe. Welche Einstellung haben wir gegenüber uns fremden Kulturen? Welche Missverständnisse entstehen dadurch, dass wir unser Gegenüber als fremd und anders wahrnehmen?

Regisseurin Verena von Kerssenbrock hat all diese Gedanken in Ihrem Regiekonzept aufgearbeitet:

„Annemarie Schimmel beschreibt es in ihrem Buch „Auf den Spuren der Muslime, Mein Leben zwischen den Kulturen“ sehr gut:

„Die genannten Ereignisse (11.September) haben in der Tat eine völlig neue Welle der negativen Beschäftigung mit dem Islam ausgelöst…Trotzdem und gerade deshalb müssen wir weiter versuchen, ein besseres Verhältnis für den Islam und für die islamische Kultur in ihrer besten Form zu finden, ebenso wie unsere muslimischen Freunde in Ägypten oder Saudi – Arabien auch offen sein müssen für das, was wir an großer Kultur zu bieten haben….Wir leben doch auf der selben Erde und müssen uns gegenseitig schätzen und voneinander wissen. Sonst geht die Kultur zugrunde, in Hass und in Hässlichkeit.“

Lebensweise und Glauben

Was wissen Belmonte und seine Freunde von der Lebensweise und dem Glauben des Landes, das sie bereisen? Wie viele Missverständnisse kommen auf, durch andersartige Denkweise und unterschiedliche Traditionen, die man nicht beachtet und vielleicht auch missachtet. Sie sind in einem fremden Land und glauben dennoch, ihr eigener Lebensstil sei tonangebend. Das kann fatale Folgen haben.

Toleranz

In dieser Inszenierung geht es nicht darum, eine Aufklärung über den Islam zu starten. Und es geht auch nicht darum, die Ereignisse des 11. September oder Madrid in den Vordergrund zu holen. Ich möchte das Stück in keinster Weise auf den Kopf stellen. Hier geht es um Toleranz zwischen den Menschen. Es beginnt schon im Verhältnis Mann und Frau und weitet sich in ein Verständnis für die gesamte Menschheit aus. […]

Schon im Kleinen stehen sich Mann und Frau gegenüber und kämpfen mit Eifersucht, Besitztum, Intoleranz, Unverständnis, Aggressionen. Woher dann auch noch die Toleranz für ein anderes Volk nehmen, für eine andere Kultur? Man möchte Klarheit, Gerechtigkeit für sich selbst, man möchte besitzen, festhalten. Man kämpft, man trickst und versucht auf jegliche Weise die Welt zu seinem eigenen Besten zu wenden.

Er hadert mit Herz und Verstand….

Auch Bassa Selim ist getrieben und hin und hergerissen in dem Weltenlauf. Er möchte besitzen, festhalten. Er hätte die Macht. Sein Einfluss könnte zerstören, ihm das nötige Recht verschaffen. Doch was ist das für ein erkauftes und erzwungenes Besitztum? Er hadert mit Herz und Verstand, doch letztendlich siegt das Wissen um die wahre Liebe. Er lässt Konstanze frei. Er gibt ihr die Freiheit und auch das Glück, nach dem sie sich sehnt. Er könnte es zerstören, er könnte Rache nehmen an alten Gräueltaten und doch tut er es nicht.

Bassa findet zur eigenen inneren Harmonie zurück, zur wirklichen Liebe, die kein Besitzdenken kennt und kann sie an die anderen weitergeben. Bassa schafft eine Brücke zwischen den Kulturen, eine Einheit. Er setzt sich über veraltetes Machtdenken hinweg und erreicht somit sein Gegenüber. Der „Krieg“ wurde im letzten Augenblick in „Frieden“ umgewandelt. Doch eine Frage bleibt: Kann er dauerhaft sein?“